Carsten Ludwig/ Kunstförderpreis Dresden

Kunstförderpreis der
Landeshauptstadt Dresden
Laudatio von
Carsten Ludwig

Ich wurde gebeten die Laudatio für Harriet und Peter Meining zu halten. Damit indirekt aufgefordert über Kunst zu sprechen, möchte ich vorausschicken, dass sie nicht wie eine Kuh auf der Weide liegt, frei nach Goethe.

Im Übrigen: Die Frage nach der Kunst steht ebenso zur Debatte wie die Frage nach dem Wissenschaftsbegriff. Auch wenn ich nicht autorisiert bin mich darüber zu äußern, so erlauben Sie mir trotzdem ein paar Gedanken voraus zu schicken, die durchaus mit der verhältnismäßig kleinen Arbeit, der Woyzeck – Genetik, die es zu würdigen gilt, in Zusammenhang stehen. Immerhin war Büchner nicht nur Dichter, sondern ebenso Anatom...

Die Schere ist weit geöffnet.

Die theoretische wie die praktische Wissenschaft – unter dem Druck der Wirtschaft schneller und effektiver, biologische, gentechnische, biophysikalische Forschungen in Praxis umzusetzen, wird zunehmend gezwungen frei von moralischen Regularien, quasi autonom, wenn nicht gar autistisch zu operieren.

Allenthalben geht die Rede vom Neoliberalismus um. Selbstverständlich kritisch. Wenn ich mich recht erinnere, gab es in der Weimarer Republik einen ähnlichen Diskurs. Das Ergebnis ist bekannt.
Verzeihen Sie mir die Frage. Welche Moral? Welche zwingenden Regeln können wir zu Grunde legen, um zu beurteilen?
Glauben Sie an den gesunden Menschenverstand?

Adolf Muschg äußerte in seiner Rede „Zur Sache Deutschland“ im Staatstheater: „Ich habe mir den Spaß gemacht, den mittelalterlichen Todsündenkatalog auf die neoliberale Wirtschaftsordnung anzulegen. Alles, was Gott verboten, gebietet der Markt: Neid, Eifersucht, Ellenbogen, Gefallsüchtigkeit, Maßlosigkeit.“
Also, vielleicht die Moral des Mittelalters in Anschlag bringen. Das scheint das Problem. Unsere moralischen Bedenken, überkommen aus vorälteren Zeiten, können unter diesen Umständen juristisch nur zu spät greifen, weil das bürgerliche Gesetzbuch hinter der neuerlichen Explosion der Forschung zurückbleibt – ich sage bewusst der Forschung, nicht der Erkenntnis, denn diese bleibt bei der Geschwindigkeit sowieso geschuldet. Folglich werden die moralischen Zinsen unserer Gesellschaft, da diese lediglich über ein altväterliches juristisches Vokabular verfügt, das sich noch immer nicht von katholisch-lutherischer Gemengegelage emanzipieren konnte, steigen. Auf der einen Seite ein Papst, der die Schwangerschaft als Tötung einschreibt. Auf der anderen Seite Wissenschaftler von Rang wie Lee Silver, er lehrt an der Princeton University, der ein Buch mit dem Titel „Remaking Eden“, die „Wiederherstellung des Paradieses“ schrieb und im Bezug auf Menschenklone: wörtlich „Jetzt wird alles möglich, alle Grenzen sind gefallen“.

Zwischen diesen Extremen verhandeln die Angestellten sehr demokratisch. Das ist die Mehrzahl von uns. Hier im Saal. Ich möchte fragen, wie viel Zeit bleibt uns noch. Zwischen Ergebnissen der Forschung und deren zwangsläufiger Umsetzung und unserer moralischen Einordnung zu differenzieren? Von Gehalt zu Gehalt?
Die Schere ist weit geöffnet.

Es gibt Zugvögel, die einen Teil ihrer Leber verbrauchen, um 12.000 Kilometer im nonstop zu bewältigen.

Woyzeck: Die Natur hat uns einmal so gemacht, Herr Doktor.

Harriet und Peter Meining gehören zu der Generation „der Untoten des kalten Kriegs, die Geschichte nicht mehr als Sinngebung des Sinnlosen durch Ideologie, sondern nur noch als sinnlos begreifen“, wie H. Müller einmal gesagt hat. Die Natur hat uns einmal so gemacht, Herr Doktor.

Harriet Meining

Seit Mitte der 80er Jahre tritt sie in Performances von Hans Scheuerecker und Dietmar Diesner auf, unstudiert, euphorisch. Sie mischt mit in der sogenannten guten alten Ost – Avantgarde.
Dann Dresden, Kuratoren wie Christoph Tannert, Claudia Reichard und die Gebrüder Lehmann nehmen sie in ihre Ausstellungskonzepte herein. Zusammenarbeit mit Holger Stark. Schließlich beginnt sie doch noch ihr Studium an der HfbK in einer Malklasse, natürlich nicht um zu malen, sondern um zu installieren. Nur nichts Klassisches, manisch alles auflösen und neu arrangieren.

Peter Meining

Mit 17/1989 Mitbegründer des Projekttheaters. Kaum 18-jährig gestikuliert der junge Herr Meining an einem Monolog von Bernhard..., immerhin kein unerheblicher Autor. Gerade alt genug für den Beginn eines Schauspielstudiums, wird er am Staatschauspiel Dresden als unstudierter Schauspieler engagiert, um nach Einblick in die Sachlage kaum 22-jährig zu kündigen. Dann taucht er bei mir auf. „Die Schlange“ Sorokin, gleich darauf engagiert er mich als Berater eigener Produktionen, veranstaltet mit 23 die „Dismorphomanie“ von Sorokin, dann leitet er kaum 24-jährig das Kunstfest des Neuen Sächsischen Kunstvereins Thema: Krieg und Tourismus:

Sie werden bemerken: Die beiden haben es eilig.

Wo andere Jahre benötigen, da geht es mit ihnen durch. Dada, Performance, Soz Art, neue Medien, sprich digitale Aufzeichnungsverfahren, aber wovon und für wen versuchen sie zu sprechen? Keine Methode.

Doktor: Du siehst so gehetzt aus; Woyzeck?

Purer Zufall? Äußerlich kommt mir die Sache der beiden leichtsinnig und etwas zu flott vor. Wie tote Fische höchst lebendig. In ihrer Bar füttern sie Woche auf Woche Monitore mit den Gesichtern von Banalität, virtuellem Sex, monochromen und farblichen Traktaten.
Geschmack ist eine kalte Sache.

Die beiden wissen. Kunst liegt auf der Straße, auch wenn sie aus London importiert werden muss.

Aha sage ich mir: die sind aber informiert.

Informiert oder besitzen sie ein feines Gespür für Putrefaction. Verwesung, die etwas kunstvoll arrangiert oder verpackt werden will, um den Genuss zu sichern, den immerhin auch Brecht einforderte. Putrefaction: Was heißt: Verbindungen gehen bei mangelndem Sauerstoffzutritt in Fäulnis über: bloß das nicht, noch nicht jetzt. Deshalb lieber in die Häute der Fäulnis schlüpfen, affirmieren heißt dafür das Zauber- oder Modewort. Ein Widerschein des Wiener Aktionismus, bloß andersherum: Diesmal kein leibhaftiges Blut. Sie fragen sich trotz – dem: Was ist unheilig? Welcher Kunstbegriff oder sollte ich besser sagen, welcher Kunstgriff vermag ETWAS zu leisten? Eben nicht Perforierung, noch kein Untergang, bloß der nicht, keine Selbstzerstörung.

Aber: Auch keine Regeln und um Gottes Willen, bloß keine Moral, welche denn? Und keine Verlässlichkeit auf wen und warum? Zu wessen Lasten? Immer auf der Suche und kein Gott, Nirgends. Immerhin wollen auch sie gehört werden, um welchen Preis auch immer, da sind sie rigoros: modern.

In ihrer Verzweiflung kauften sie sich nicht nur einmal (ich fand das sehr anrührend) eine Eintrittskarte an der Abendkasse des städtischen Theaters, willentlich unvoreingenommen.

Sie gehen hinein und verlassen es klammheimlich in der Pause, irritiert über die abgestandene Nachahmung irgendeiner Wut oder Freude oder Aussage von Gestern: Bild: – heute: Spiegel.
Dann aber machen sie Woyzeck und ihre Kneipe: dilettieren ganz praktisch, wo andere an langen Abenden (man gedenke Rilke) sehr Wichtiges besprechen.

Liebe Harriet und lieber Peter,
Ich erinnere mich an Euren Skeptizismus, Eure Euphorie und an Eure Neugier. Ihr guckt hin, Ihr nehmt Euch rigoros, was sich verwerten lässt, allenthalben. Aber, was mir wichtig erscheint. Immer sind Eure künstlerischen Geschäfte der Versuch nach Gesetzen zu arbeiten, die nicht mehr für Individuen, sondern für Gruppen oder kollektive Masken gelten.

Und nun dieser Woyzeck – Genetik – oder sollte ich besser sagen Gestik. Sich eines Textes von Büchner anzunehmen, war ein raffinierter Zugriff. Geschickt nennen sie das Ganze „Woyzeck – Genetik“. Ein Zusammenhang von der Fallstudie, dem Fragment des Frauenmörders Woyzeck und der Anatomie von Kunst, immerhin der Versuch ihn herzustellen, ist zu loben. Denn es steht viel auf dem Spiel, geht es doch um einen Paradigmenwechsel in der Literatur vermittels der Wissenschaft, damals einerseits und in der Kunst von heute andererseits. Büchner ändert die Perspektive radikal. Der Blick in den Schädel sprengt erstmals das Genre Literatur. Büchner hat Naturstudien betrieben, er forschte nach den Schädelnerven der Fische. Er lässt Physiologie in Kunst aufgehen. Er stülpt quasi das Gehirn in den Gesichtsnerv. Hier operiert kein klassisch deutscher Humanismus auf der Suche nach Ausgleich der Kräfte. Im Abendlicht der Aufklärung erschrickt Büchner über das letzte Tier. Woyzeck. Wissenschaft, Untersuchung, gekoppelt an Kunst oder Dokumentation: in dieser Arbeit der Versuch einer Anordnung.

Doch zunächst, was haben wir vor uns. Ein allenthalben bewährtes Repertoirestück deutscher Intellektueller. Eine Art Kriminalstück, getarnte Krankengeschichte abendländischer, okzidentaler Intelligenz. Populärer Topos, der in der Romantik aufkam und längst zur Allerweltsweisheit degeneriert ist.
Typ! Wenn ich nicht Künstler geworden wäre, säße ich heute im Gefängnis oder Irrenhaus. Oder ein Stück Autopsie? Büchner, der Arztsohn, sucht in den Eingeweiden nach Sinn? Auf der Suche nach dem Verlust des Glaubens?

Es scheint schon ein ziemlicher Blödsinn zu sein, virtuelle Stars wie Otto Sander, Hanna Schygulla, Irm Hermann, Eva Mattes, Nick Cave oder Udo Lindenberg usw. in diesem Zusammenhang zu besetzen: Erinnerte Gesichter, wohlbekannter Ausdruck, alte Filme usw. und der Illusion (der Maske geschuldet) eben kein Gefängnis, kein Irrenhaus – die nicht, die simulieren kunstvoll. Ausdruck des Neoliberalismus par exelance zu scheinen, was sie nicht sind, um die Täter wie die Opfer kunstvoll zu exekutieren. Damit Sie mich richtig verstehen, die Authentizität steht zur Debatte. Diese immerhin wollte von den Preisträgern befragt werden und deshalb hat ihr Unfug Methode. Sie haben ohne jegliche Regie, ohne eigenen Ehrgeiz an Gestaltung – ihre – Gesten (die der Akteure) das sein lassen, was sie film- und mediengeschichtlich geworden sind: eingefrorene Stereotypen, bedrohlich nicht nur durch das Thema – sicher auch durch das fotografische Großformat – aber damit auch beliebig reproduzierbar und allseitig einsetzbar, ergo: tüchtige Waffen, humanistische Terminatoren, gute Einschaltquoten. Was, frage ich mich, wenn man ein filmisches Archiv der bewährten Gesten einrichten würde, das man je nach politischer und sozialer Großwetterlage eröffnete? Und das deuten Sie mit Ihrer Arbeit an. Das ist nicht gering. Wenn Bedrohung, dann daher, geklonter, gemorphter Humanismus. Machen wir uns nichts vor, das Stadttheater klont sich selbst, aber wenn die technischen Archive durchschlagen, dann wird’s gründlich. Immerhin wird vorgestellt ein Auszug des Repertoires unserer Hochleistungs-Künstlermoderatoren als ein Gespenst, das frei nach Büchner umgeht und heißt „der Tod durch Kunst“. Tote Fische: Liebling Kreuzberg und die Telekom, „sparen, sparen, sparen“,
„so happy to gether“...

Der Nerv der Zeit, im toten Fisch, der lebt und wie!

Nichtsdestotrotz versuchen die Preisträger – Frei nach Hugo Ball – „mit der Gewissensform ihrer Begabung die Zeit“ vorzustellen.
Kalt und emotionslos, auch wenn diesen oder jenen Zuschauer das Format begeistert oder vor den Kopf stößt, realisieren die Beiden einen Diskurs auf der Ebene von anwesendem Fleisch (Woyzeck) und purer Leinwand, gefüllt mit virtuellem Fleisch, von Vorstellung und Anwesen, Wissen und Ohnmacht... das ist nicht gering.

Ich gratuliere Euch, liebe Harriet und lieber Peter und der Jury zu ihrer Wahl.

Bleibt die Hoffnung, dass mit Eurer Würdigung die Vorstellung von einem Abszess am gegenwärtigen Kunst- und Wissenschaftsbegriff genährt wird. Denn: „Nur das unzulängliche ist produktiv“. Goethe.


Carsten Ludwig ist Regisseur. Die Laudatio hielt er im März 1998 im Kulturrathaus Dresden.