Hartmut Krug über Harriet und Peter Meining anlässlich der Verleihung des George Tabori Preis

George-Tabori-Preis 1010
Laudatio von Hartmut Krug

Es gibt eine schöne Forderung aus den Zeiten, als das freie Theater in Deutschland, wenn auch nicht besser, so doch anders war: zielgerichtet und mit weltverbesserndem Furor, protestierend gegen vermeintlich falsche Gesellschaftsordnungen und verstaubte Stadttheater. „Theater muss wie Fußball sein“, hieß es, und die Zuschauer aus allen Gesellschaftsschichten sollten mit dem Theater sehr direkt und abbildhaft von ihrem und einem besseren Leben erzählt bekommen. Einfach und spielerisch wollte das freie Theater den Zuschauer für das falsche Theater seiner gesellschaftlichen Wirklichkeit stärken. Auf diese direkte Weise geht das heute sicher nicht bei einem freien Theater, das sich „norton.commander.productions“ nennt und in nahezu jeder Kritik konstatiert bekommt, es bewege sich an der Schnittstelle von Theater, Bildender Kunst und neuen Medien.
Mittlerweile tummeln sich allerdings an dieser Schnittstelle viele Theatermacher nicht nur der freien Szene, sondern auch der Stadt- und Staatstheater. Doch „norton.commander.productions“ ist, wie der Name andeutet, eine Theatergruppe, die seit zwanzig Jahren immer wieder aufs Neue in unbekannte Theatergalaxien aufzubrechen sucht. Wo Video-Einspielungen, Musik und theatrale Dekonstruktion oft nur noch atmosphärische Methode und Mode sind, da entwickeln Harriet Maria und Peter Meining von norton.commander.productions immer neue Formen ihres Montage-Theaters. Es ist auf sehr eigenartige und eigene Art ein Theater, das seine Theorie und Reflexion auf der Bühne gleich mitliefert. Was diese Gruppe bietet, ist sinnliches Denktheater, das es dem Publikum nicht einfach macht. Denn ihre Inszenierungen sind Konstruktionen der Wirklichkeit ohne lineare Erzählweisen, sie reflektieren im Spiel immer auch Wahrnehmungs- und Darstellungsmöglichkeiten, so dass der Zuschauer dem Theater beim Denken zusieht und selbst mitdenken muss. Ich kenne kein anderes Theater, das so virtuos und auf immer wieder andere Weise zugleich auf verschiedenen medialen Ebenen spielt.
Ein wahrer Geniestreich war „Genetik Woyzeck“, eine theatrale Versuchanordnung, die ich 1997 in Dresden-Hellerau sah: eine zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Theater und Film, zwischen realer Anwesenheit und virtuellem Dasein changierende Untersuchung über unser Leben in moderner Medienwelt. Nicht nur Büchners Figuren, sondern auch das Publikum waren Teil einer Versuchsanordnung in einem gläsernen Studio, in dessen Mitte Woyzeck allein auf einem Sofa saß, festgenagelt in seinem an ihm noch einmal ablaufendem Leben. Alle anderen Figuren, besetzt mit berühmten Schauspielern wie u.a. Eva Mattes und Martin Wuttke, Ulrich Wildgruber und Heinz Rennhack, waren als Ikonen der Macht auf fünf großen Leinwänden präsent. Hier war zum ersten Mal eine Ausdrucksweise präsent, die viele Arbeiten der Gruppe prägt: nämlich den Körper des Menschen mit der Ästhetik der Medienwelt und deren eingeschriebenen Machtstrukturen zu konfrontieren.
Die Komplexität der Arbeiten dieser Gruppe, die sich immer wieder mit leibhaftig oder nur medial anwesenden berühmten Schauspielern verstärkt, wird auch durch ausgeklügelte, technisch und sinnlich aufgeladene Raumlösungen (wie im kürzlich im Hebbel am Ufer zu sehenden „Das kalte Herz“) verstärkt. Licht, Sound und Bildkraft ihrer Inszenierungen sind ungewöhnlich, sind Mitspieler, statt nur Untermalung zu sein.
Wobei das synthetische Theater von „norton.commander.productions“ weniger ironisch posiert als moralisch vor-denkt. Es ist ein auch politisches Theater einer neuen Form, das die verschleiernden Mechanismen unserer Informationsgesellschaft im medial-theatralen Kontrast poetisch ausbreitet und ausdeutet. Nicht von ungefähr greift die Gruppe immer wieder zu Stoffen von Rainer Werner Fassbinder, zu Filmvorlagen oder adaptiert Märchen.
In „Frankenstein. Kommunikationskatastrophen“ wird gefragt nach dem Erbgut und dem, was den Menschen ausmacht, und moderne Forschung und der alte Frankenstein-Grusel werden erschreckend zusammen geführt. Ergebnis: ein Schrecken der Erkenntnis. Während in der „Filmkampfmaschine“ Motive aus Heinrich Manns „Der Untertan“ mit oder gegen Sequenzen aus Wolfgang Staudtes Film montiert werden. Schließlich wird dies verschnitten mit dem Märchen von der Goldmarie und einem Interview mit einem Bundeswehrmajor, bis der Performer des Abends fragend vor Gott steht. Doch auch der kann für unser 21.Jahrhundert nicht die richtige Antwort darauf geben, was Moral, was Macht, was Tugend seien, in der Gesellschaft wie in der Kunst. Ob eine Fortschreibung von Schillers „Die Polizey“, ob Adaptionen von Filmen wie Stanislaw Lems „Solaris“, Polanskis „Rosemaries Baby“ oder Tarkowskis „Die Zone“, ob bei „Angst“ nach Texten u.a. von Schädlich und Kluge oder ob beim „Kommunistenfresser“, bei dem sie sich mit dem gesellschaftlichen Erinnerungsblick auf eine untergegangene Ideologie und einen verblichenen Staat auseinander setzen, immer sind es politische Probleme oder Fragen, denen „norton.commander.productions“ mit vielfältig variiierten theatral-medialen Mitteln poetisch zu Leibe rücken. Ihr Theater stellt große, grundsätzliche Fragen, ohne endgültige Antworten zu geben, - die muss das Publikum selber zu finden suchen. „Märchen – naive Fragen – komplexe Antworten“, so heißt eine Produktion aus dem Jahr 2004, die paradigmatisch für die Arbeit von „norton.commander.productions“ stehen könnte.
Die Dresdner Gruppe hat über viele Jahre, fern vom sogenannten Zentrum der freien Theaterszene in Berlin, kontinuierlich neue Formen gefunden. Sie hat sich dabei immer wieder künstlerisch weiter entwickelt und sich eine autonome Arbeitsweise jenseits der Stadttheater erstritten, mit Gastspielen bei festen Partnern wie dem Theaterhaus Jena, dem Hau, dem Forum Freies Theater Düsseldorf, Kampnagel Hamburg, dem Festspielhaus Hellerau und dem Mousonturm in Frankfurt. Aber auch mit Produktionen am Berliner Kinder- und Jugendtheater an der Parkaue. Wie Fußball ist dieses Theater wahrlich nicht. Und ob es das beste freie Theater Deutschlands ist, vermag ich nicht zu sagen, auch wenn unsere aufs Ranking versessene Gesellschaft dies von einem Juror verlangt. Doch bemerkenswert und einzigartig sind die Produktionen, die künstlerische Kontinuität und der Einfallsreichtum von norton.commander.productions. Eben unbedingt preiswürdig.