GENETIK WOYZECK - EINE GEISTERBESCHWÖRUNG NACH 28 JAHREN
„Genetik Woyzeck“ inszenierten wir 1997 im Festspielhaus Hellerau. „Auf der Bühne nur eine weiße Couch. Auf ihr hat der einzig leibhaftige Schauspieler Lars Rudolph Platz genommen. Er spielt Woyzeck – der Rest ist Fiktion. Mit einer Micro-Kamera filmt er sich bis ins Intimste – was auf Monitoren im Zuschauerraum wiedergegeben wird. Seine Gegenspieler treten nicht leibhaftig auf, sondern sind als lebendige Bilder auf zwei riesige Leinwände verbannt. „Es sind Stars der Medienwelt“, so der Stücktext von 1997. Die Inszenierung nehme, so der SPIEGEL damals, „den Fiktionszusammenhang von Menschen und Medien mitsamt seiner Stars ins Visier“.
28 Jahre nach der Premiere zeigen wir diese Inszenierung als Wiederaufnahme, mitsamt der neuen Fragen, die „der Fiktionszusammenhang von Mensch und Medien“ im Zeitalter von KI, Populismus und „Fake News“ aufwirft. Neben Lars Rudolph auf der Bühne treten im Film auf: Blixa Bargeld, Ben Becker, Frank Castorf, Nick Cave, Dietmar Diesner, Herbert Fritsch, Irm Hermann, Udo Lindenberg, Markus Lüpertz, Joachim Maaz, Eva Mattes, Rebecca Meining, Ulrich Meyer, Dr. Motte, Pigor und Eichhorn, Uwe Preuss, Heinz Rennhack, Hans Scheuerecker, Christoph Schlingensief, Alexander Schröder, Hanna Schygulla, Otto Sander, Bert Stephan, Alan Vega, Ulrich Wildgruber und Martin Wuttke.
1997 war eine Übergangszeit. Die Digitalisierung steckte noch in den Anfängen, die Fragmentierung von Realität, Identität und Darstellung und ihr disruptives Potenzial war bereits spürbar. „Big Brother“ (2000) und „Matrix“ (1999) lagen in der Luft – die Idee vom Leben als Simulation bzw. das Konzept des Trivialen das sich selbst inszeniert – als Vorahnung medialer Selbstverwertung. Die noch nahezu unbekannten Autoren Michel Houellebecq und Bret Easton Ellis hatten mit „Ausweitung der Kampfzone“ (1994) und „American Psycho“ (1991) neue Antihelden entworfen. Filme wie „Mann beißt Hund“ (1992) oder „Funny Games“ (1997) irritierten mit moralischen Umkehrungen – sie machten die Zuschauer*innen zu Komplizen eines übergeordneten Konzepts, das wichtiger als die Handlung wurde. Genau in diesem Klima entstand unsere Arbeit – in der langsam einsetzenden Dämmerung eines „langen Sommers der Theorie“, gespeist von Merve-Bändchen, von Baudrillard, Flusser, Virilio, Foucault etc. in der Verschränkung von Kunst, Pop und Theorie, im Stochern im Nebel der Wirklichkeit. „Genetik Woyzeck“ war kein Bühnenstück im klassischen Sinn, sondern ein dekonstruktives Videoprojekt – gedreht mit minimalem Equipment, in Wohnzimmern, Küchen, Hotelzimmern. Die Szenen wurden einzeln aufgenommen, die Schauspieler bestimmten ihr Outfit selbst, als Dank gab es eine Flasche Wein. Die Rollenstruktur des Originals lösten wir auf: Drei Doktoren, vier Hauptmänner, nur Marie (Eva Mattes) und Andres (Martin Wuttke) waren durchgängig besetzt. So trennten wir individuelle und funktionale Beziehungen im Stück. Diese offene Form spiegelte unsere Haltung gegenüber dem Theaterbetrieb jener Zeit. Orte wie das Festspielhaus Hellerau oder das Berliner Festival „reich & berühmt“ boten den ästhetischen und institutionellen Gegenentwurf zum etablierten Stadttheater. Dort wurde experimentiert: zwischen Pop, Theorie, Trash und Performance, zwischen Ernst und Pose. Wir inszenierten uns selbst als Künstlerpaar – als Label, als ästhetisches Projekt und nannten uns schließlich norton.commander.productions. in Anlehnung an Software-Ikonen der 80er. Für „Genetik Woyzeck“ reisten wir anfänglich nach Kalifornien, versuchten vergeblich Robert De Niro für eine Rolle zu gewinnen, trafen Udo Kier und diverse Hollywood Agenten, filmten mexikanische Kellner, die Büchner-Zeilen aufsagten. Die Grenzen zwischen Kunst und Alltag, Realität und Fiktion, Theorie und Trash sollten bewusst verwischt werden. Zurück in Deutschland reduzierten wir unsere vielen Ideen und gaben dem Projekt eine strengere Form. Dass das Konzept des „prominenten Gesichts“, das sich in einem singulären Moment selbst inszeniert eine eigentümliche Wirkung entfalten würde, wurde uns in der Montage klar. Die Aufnahmen machen etwas sichtbar, das inzwischen alltäglich ist: die Mechanik von Repräsentation, Funktion, medialem Selbstentwurf. Inzwischen sind wir alle selbst zu „Gespenstern des Kapitals“ geworden – deren hilfloses Zappeln gnadenlos selbst – und fremdverwertet wird. 28 Jahre später beschwören „Gespenster“ also „Geister“ und feiern eine Wiederbegegnung.
„Genetik Woyzeck – Eine Videokonferenz mit tödlichem Ausgang“ ist eine Spurensicherung aus einer Zeit, in der Kunst, Theorie und Lebensform noch nahezu analog und unauflöslich miteinander verbunden waren.